- Infektionskrankheiten: Alte Feinde auf dem Rückzug
- Infektionskrankheiten: Alte Feinde auf dem RückzugDie Ausrottung ansteckender Krankheiten bleibt, bis auf wenige Ausnahmen, ein Traum. Dennoch stimmen die Vorhersagen der Epidemiologen optimistisch: Todesfälle durch Viren, Bakterien und andere Parasiten werden ebenso zurückgehen wie Unterernährung, Säuglings- und Müttersterblichkeit. Während 1990 noch über 17,3 Millionen Menschen an diesen Leiden verstarben, werde die Zahl der Opfer im Jahr 2020 auf 10,3 Millionen sinken, schätzen die Autoren der bislang gründlichsten Analyse weltweiter Krankheitstrends, Christopher J. L. Murray und Alan D. Lopez von der Harvard School of Public Health. Andererseits bereiten Kriege und Flüchtlingsströme, Massentourismus und anhaltendes Bevölkerungswachstum den Weg, auf dem bereits besiegt geglaubte Seuchen wie die Tuberkulose zurückkehren werden oder sich neue Erreger schnell ausbreiten können. Die Rinderseuche BSE wiederum veranschaulicht, dass auch neuartige und nur schwer zu fassende Erreger den Menschen attackieren können.Der Traum von der Ausrottung der SeuchenZum Ende des 20. Jahrhunderts gehen kaum mehr als fünf Prozent aller Todesfälle in den westlichen Industrienationen auf das Konto von Lungenentzündungen und anderen Infekten. In den armen Ländern liegt diese Zahl bei fast 30 Prozent. Optimisten sehen in dieser Diskrepanz den Beleg dafür, dass Millionen von Menschenleben durch bessere Hygiene, sanitäre Einrichtungen und bereits heute verfügbare Impfstoffe gerettet werden könnten. Nicht die Nobelpreise — so hat es den Anschein — bestimmen, wie viele Menschen von der Medizin gerettet werden können, sondern die Medikamentenpreise und Lebensverhältnisse. Allerdings ist auch das Gesundheitsbudget eines Landes nur einer von mehreren Faktoren, die darüber bestimmen, ob eine Krankheit Millionen von Menschen hinrafft oder ob sie beherrschbar wird.Das zeigt das Paradebeispiel eines erfolgreichen internationalen Kampfs gegen einen Krankheitserreger. Zehn Jahre Zeit und 313 Millionen Dollar hat es gekostet, die Menschheit von einer ihrer schrecklichsten Plagen zu befreien, den Pocken. Den offiziell letzten Pockenpatienten entdeckten Ärzte am 26. Oktober 1977 in Somalia. Drei Jahre später erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Krankheit für ausgerottet. Zehn Jahre zuvor hatte das Virus noch etwa zwei Millionen Menschen getötet.Der spektakuläre Erfolg der WHO beruhte auf mehreren günstigen Voraussetzungen: Der benutzte Impfstoff verlieh zuverlässigen und lang anhaltenden Schutz gegen beide bekannten Erregerformen, die Variola-Viren. Zudem waren diese Viren für ihre Vermehrung auf den Menschen als Wirt angewiesen. Sie können nicht — wie beispielsweise Malariaparasiten — in Haus- und Wildtieren überleben.Ein aus heutiger Sicht naiver Optimismus und mangelnde Kenntnisse über Resistenz- und Abwehrmechanismen der meisten Erreger verleiteten Wissenschaftler, Ärzte und Gesundheitspolitiker seit dem Ende des zweiten Weltkriegs immer wieder dazu, das baldige Ende der großen Seuchen vorherzusagen. Seitdem haben sich zwar die Lebensbedingungen für einen Großteil der Erdbewohner deutlich verbessert. Die Nahrungsmittelproduktion wurde verdoppelt, die Kindersterblichkeit halbiert. Die Lebenserwartung stieg in vier Dekaden von 48 auf 66 Jahre — aber dennoch gelang es trotz zahlreicher Ausrottungs- und Kontrollprogramme bisher nicht, den Triumph über die Pocken bei anderen Seuchen zu wiederholen.Stattdessen starben 1998 fast fünf Millionen Menschen an Aids, Tuberkulose und Malaria. Weitere 3,5 Millionen Menschen fielen verschiedenen Atemwegsinfektionen zum Opfer. Durchfall, Masern, Tetanus und Keuchhusten raffen bis heute in den Entwicklungsländern jedes Jahr knapp vier Millionen Säuglinge und Kinder dahin — allesamt Leiden, die in reichen Ländern schon seit Jahrzehnten gut unter Kontrolle sind.Vorbeugung ist billiger und besser als jede TherapieDen größtmöglichen Fortschritt bei minimalem Einsatz erwarten die WHO-Mitgliedsländer von der neuen Direktorin Gro Harlem Brundtland. Schon vor der Amtsübernahme versprach die Ärztin und frühere norwegische Ministerpräsidentin, besser als bisher mit nationalen Behörden und privatwirtschaftlichen Unternehmen zusammenzuarbeiten. Außerdem kündigte Brundtland an, Interventionsprogramme stärker als in der Vergangenheit zu fokussieren und dabei auch vermehrt Berechnungen zu deren Kosten und Nutzen anzustellen.Eine Schlüsselrolle bei solchen Programmen kommt den bereits heute verfügbaren Impfstoffen zu, die konsequent angewendet werden müssen. Sie könnten den Großteil der jährlich 1,6 Millionen Todesfälle durch Masern, Tetanus, Keuchhusten, Diphtherie und Kinderlähmung (Poliomyelitis) verhindern. Den niedrigen Kosten für die Impfstoffe selbst stehen allerdings die mangelnde Stabilität vieler Entwicklungsländer und der vergleichsweise geringe Stellenwert gegenüber, den immer noch viele Länder der Gesundheitsvorsorge beimessen.Sehr deutlich wird dies am Beispiel der Poliomyelitis: Ebenso wie die Pocken könnte auch diese Viruserkrankung bald nur noch in den Geschichtsbüchern zu finden sein. Der Erreger ist nicht besonders ansteckend, er kann nur von Mensch zu Mensch übertragen werden und überlebt nicht lange außerhalb des Körpers. Ein wirksamer Impfstoff aus abgeschwächten Erregern ist seit 1955 verfügbar. Mit nur drei Dollar pro Injektion ist er zudem so billig, dass auch Massenimpfkampagnen bezahlbar bleiben. Dennoch ist der virale Feind nach wie vor präsent.Seit Mitte der 80er-Jahre sank die Zahl der Neuerkrankungen um mehr als 90 Prozent auf zuletzt 3200 Fälle. »Verbleibende Impflücken sind der einzige Grund dafür, dass es die Poliomyelitis noch gibt«, urteilt die WHO in ihrem Weltgesundheitsbericht 1999. Zwar wurden sogar im vom Bürgerkrieg geschüttelten Afghanistan die Kampfhandlungen unterbrochen, damit rund 19000 kurzfristig stationierte Ärzte in nur zwei Monaten vier Millionen Kinder impfen konnten. Gleichzeitig mussten aber die Rotarier mit einer Spende von 500 Millionen Dollar einspringen, weil die ursprünglich für das Jahr 2000 geplante Ausrottung der Kinderlähmung an der mangelnden Zahlungsbereitschaft der WHO-Mitglieder zu scheitern drohte.Noch vor dem Abschluss dieser Kampagne rückten die Masern ins Rampenlicht. Nur 2019 Fälle wurden 1996 auf dem gesamten amerikanischen Kontinent amtlich bestätigt — gegenüber geschätzten 100000 Erkrankungen und bis zu 100 Todesfällen jährlich in Deutschland. Allerdings ist der Impfschutz auch in Amerika nicht lückenlos, wie der brasilianische Ausbruch von 1997 belegt. Die vermutlich aus Europa eingeschleppten Viren infizierten 60000 Menschen und warfen die Ausrottungskampagne der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (Panamerican Health Organisation, PAHO) um Jahre zurück.Diese Beispiele erhellen die Vielfalt der Gründe, weshalb zwischen der medizinisch möglichen und der realen Gesundheitssituation oft große Lücken klaffen. Dennoch bleibt ein deutlich positiver Trend festzuhalten: Weltweit stieg die Durchimpfungsrate bei Masern in nur zehn Jahren von 53 auf gegenwärtig 82 Prozent. Gleichzeitig sank die Zahl der jährlichen Infektionen um fast drei Viertel auf etwa 30 Millionen. Gegenüber 1990, als fast sechs Millionen Kinder an der Seuche starben, reduzierte sich die Zahl der Opfer auch dank besserer medizinischer Versorgung auf ein Siebtel. Mit zwei bis siebzehn Dollar für jedes gewonnene Jahr an krankheitsfreier Lebenszeit erwies sich die Masernimpfung weltweit als eine der kostengünstigsten Strategien im Kampf gegen die großen Killer.Wissen als WaffeMit einer Milliarde Dollar will die WHO die Zahl der Malariatoten auf jährlich 500000 halbieren. Ein schwieriges Unterfangen, denn gegen diese Tropenkrankheit gibt es bisher keinen Impfstoff und zahlreiche Kontrollversuche zur Eindämmung der Seuche scheiterten in der Vergangenheit. Zum einen entwickelten die Malariaerreger Resistenzen gegen die verfügbaren Arzneimittel, zum andern verloren die eingesetzten Insektizide gegen die Überträger des Parasiten, die Anophelesmücken, an Wirksamkeit. Zum Dritten verhinderte der desolate Zustand der Gesundheitssysteme in den am stärksten betroffenen Ländern Afrikas den konsequenten Kampf gegen den Erreger und die ihn übertragenden Stechmücken.Dennoch könnte eine 1998 gestartete gemeinsame Initiative unter Beteiligung von Weltbank sowie dem Kinderhilfswerk und dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen die Bilanz entscheidend verbessern. Ziel ist es, das bereits verfügbare technische Wissen und bewährte Organisationstechniken nutzbar zu machen, um die Malaria zurückzudrängen und die Malariakranken effektiver zu behandeln. Kleinlaut gesteht nämlich der Weltgesundheitsbericht des Jahres 1999, dass die früheren Programme ihr Ziel auch deshalb verfehlten, weil sie kaum Rücksicht auf die lokalen Gesundheitsstrukturen nahmen. Jetzt sollen beispielsweise Schulungen und einfache Tests dafür sorgen, dass die Treffsicherheit der Diagnosen steigt und Arzneimittelresistenzen früher erkannt werden. Der resultierende Zeitgewinn soll die Überlebenschancen der Patienten drastisch erhöhen und die gefürchteten Spätschäden durch den Befall des Nervensystems vermeiden helfen, und zwar bei geringeren Medikamentenkosten. So könnten beispielsweise vorverpackte Pillen mit leicht verständlichen Gebrauchsanweisungen folgenschwere Behandlungsfehler verhindern helfen. Die in Asien und Südamerika erfolgreich praktizierte Verteilung von Moskitonetzen, die mit Insektengift imprägniert sind, erscheint dagegen in Afrika aus Kostengründen momentan kaum realisierbar.Eine der wichtigsten Lehren aus der Vergangenheit lautet: Kontrollstrategien müssen sowohl an die lokalen Verhältnisse als auch an die jeweils unterschiedlichen Ausbreitungswege und Abwehrmechanismen einzelner Krankheitserreger angepasst sein. Maßgeschneidert auf die Tuberkulose bedeutet dies etwa eine spezielle Kombination aus Arzneimitteltherapie und Überwachung, die DOTS-Strategie (englisch für »directly observed treatment, short course«): Über einen Zeitraum von sechs bis acht Monaten nehmen die Patienten einen Medikamentenmix unter den Augen eines Arztes oder geschulter Laien ein. So lässt sich die Krankheit für etwa 50 Mark recht gut behandeln. Seit 1990 erhielten mehr als eine Million Tuberkulosekranke die DOTS-Therapie, in mehr als 100 Ländern gilt sie als Behandlungsstandard. DOTS, so jubelte der ehemalige WHO-Direktor Hiroshi Nakajima, sei »der größte Durchbruch im Gesundheitswesen« während der Neunzigerjahre und könne in der nächsten Dekade zehn Millionen Menschen das Leben retten.Dass die Tuberkulose wahrscheinlich dennoch in den nächsten 20 Jahren immer mehr Todesopfer fordern wird, liegt nur zum Teil am Geldmangel und an logistischen Problemen in den Entwicklungsländern. Der wichtigste Wegbereiter für einen neuerlichen Tuberkuloseschub ist die immer weiter um sich greifende Aidsepidemie. Deren Auslöser, das erst 1983 entdeckte menschliche Immunschwächevirus (human immune deficiency virus, HIV) zerstört eine zentrale Gruppe von weißen Blutzellen, die T-Helfer-Lymphozyten. Diese sind für die Abwehr feindlicher Eindringlinge unentbehrlich. HIV-Infizierte werden so zum bevorzugten Opfer des Tuberkuloseerregers Mycobacterium tuberculosis, der immerhin in jedem dritten Erdbewohner schlummert. Nach Angaben der WHO starben 1998 etwa 1,5 Millionen Menschen ohne HIV-Infektion an Tuberkulose. Unter den 2,3 Millionen Aidsopfern jedoch, so der Leiter des Aidsprogramms der Vereinten Nationen (UNAIDS), Peter Piot, seien die Tuberkuloseerreger für 30 Prozent aller Todesfälle verantwortlich.Aids in AfrikaDiese sehr hohe Zahl an Aidsopfern übersteigt schon jetzt die Prognosen der »Burden of Disease«-Gruppe bei weitem. Diese Experten hatten ursprünglich den Höhepunkt der Epidemie mit 1,7 Millionen Toten für das Jahr 2006 vorhergesagt. Doch schon 1998 nahm Aids den zweiten Rang unter den tödlichen Infektionskrankheiten ein, nur noch übertroffen von Lungenentzündungen, die durch verschiedene Erreger verursacht werden. UNAIDS schätzte in diesem Jahr die Zahl der Infizierten weltweit auf 33,4 Millionen — eine Steigerung von mehr als zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. Wie so oft haben die Nationen mit den geringsten Ressourcen die größte Last zu tragen. Mehr als 95 Prozent aller HIV-Infizierten und aller Aidstoten entfallen auf die Entwicklungsländer. Dass die Krankheit meist im produktivsten Lebensabschnitt ausbricht, verschärft die Situation noch weiter, weil die krankheitsbedingten wirtschaftlichen Verluste auf die ohnehin schon unterfinanzierten Gesundheitssysteme durchschlagen — die Steuereinnahmen sinken und aus ehemaligen Beitragszahlern werden Empfänger. In Ländern wie Botswana, Namibia und Simbabwe sind nach Erkenntnissen von UNAIDS-Experten zur Wende des Jahrtausends mehr als ein Viertel der Erwachsenen HIV-positiv; in Kenia, Malawi, Moçambique, Ruanda, Sambia und Südafrika sind es mehr als zehn Prozent. Die mittlere Lebenserwartung der Menschen in diesen Ländern wird durch die Epidemie um 17 Jahre verkürzt, so die Vorhersagen. Peter Piot, der Chef von UNAIDS, sieht die Lage illusionslos: »An vielen Orten ist die Situation völlig außer Kontrolle.«Lediglich in Europa und Nordamerika begannen die Aidszahlen Ende der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts zu fallen. Für diese erfreuliche Entwicklung gibt es drei Gründe: die vergleichsweise früh initiierten und effektiven Aufklärungskampagnen in Europa, die seit 1985 routinemäßig angewandten Bluttests und die rasante Entwicklung mehrerer hoch wirksamer Medikamente. Zum Preis von jährlich etwa 30000 Mark verlängern die neuen Virusblocker die Überlebenszeiten finanziell abgesicherter HIV-Infizierter spürbar. Für die allermeisten Patienten in den Entwicklungsländern aber bleiben derart teure Medikamente unerreichbar. Ein preiswerter Impfstoff, der auch in armen Ländern einsetzbar wäre, ist dagegen noch lange nicht in Sicht. Die im Rahmen der Delphi-Studie befragten deutschen Experten erwarten solch einen Impfstoff erst für das Jahr 2013.Bis dahin ist die Aidsprävention die mit Abstand beste Methode, um die weitere Ausbreitung der Seuche zu begrenzen. In Thailand etwa warben die Behörden bereits 1990 in einer groß angelegten Anzeigenkampagne für den regelmäßigen Gebrauch von Kondomen. Zusätzlich verteilt die Regierung jährlich 60 Millionen Präservative an Bordellbesitzer und Prostituierte. Der Sexualkundeunterricht in den Schulen befasst sich mit Aids, und HIV-Infizierte, die man zuvor nur als potenzielle Überträger betrachtete, stellten die Behörden als Gesundheitsberater ein. Der Erfolg dieser konsequenten Aktion ist inzwischen gut belegt: Der Prozentsatz HIV-infizierter Rekruten in der thailändischen Armee sank zwischen den Jahren 1993 und 1997 von 3,7 auf 1,9 Prozent. Die weitere Ausbreitung der Aidsepidemie wird also wesentlich davon abhängen, ob derartige Programme den Status von singulären Vorzeigeprojekten beibehalten oder ob sie in den betroffenen Länder zur Norm im Kampf gegen Aids werden.Impfschutz gegen bislang schwer erreichbare ErregerMan muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass sich der Siegeszug der Impfstoffe bis weit in das 21. Jahrhundert fortsetzen wird und dass man sich auch vor Krankheiten wird schützen können, für die es bisher keinen Impfschutz gab. Allein der zunehmende Kostendruck im Gesundheitswesen wird diesen Trend verstärken, denn in den meisten Fällen ist die Prävention gegenüber der Therapie die preiswertere Alternative.Den Anfang in diesem Reigen könnten zwei Impfstoffe machen, die Neugeborene vor Rotaviren und dem Bakterium Streptococcus pneumoniae schützen. Sie könnten sich schon bald als millionenfache Lebensretter erweisen, allerdings nur, wenn die Impfstoffe nicht nur in Europa und Nordamerika zum Einsatz kommen, sondern auch in den Ländern der Dritten Welt. Rotaviren sind in den westlichen Industrienationen die Hauptverursacher von Durchfall und Erbrechen. Sie erzwingen jährlich etwa eine Million Arztbesuche und 100000 Krankenhauseinweisungen. In den armen Ländern der Welt töten sie annähernd 800000 Kleinkinder durch Flüssigkeitsverlust und Entkräftung. Fast doppelt so hoch ist die Sterblichkeit durch verschiedene Stämme von Streptococcus pneumoniae. Diese auch als Pneumokokken bezeichneten Bakterien verursachen den Großteil aller Lungen- und Hirnhautentzündungen.Bereits 1999 kam in den USA ein Rotavirenimpfstoff auf den Markt, den die dortigen Behörden zunächst in die offiziellen Impfempfehlungen aufnahmen. Diese Empfehlung verlor der Impfstoff zwar inzwischen, da sich herausstellte, dass er als Nebenwirkung zu Darmverstopfung führen kann. Inzwischen stehen jedoch weitere Rotavirenimpfstoffe kurz vor der Markteinführung. Annähernd gleichzeitig wurde ein neuer Pneumokokken-Impfstoff im Rahmen von klinischen Studien an knapp 40000 Kindern erprobt. Dabei zeigte sich, dass er auch Neugeborene vor Lungenentzündungen schützt.Trotz zahlreicher Rückschläge wachsen auch die Chancen, dass bis zum Jahr 2015 ein kostengünstiger Malariaimpfstoff für die armen Tropenländer entwickelt wird. Gegenwärtig gibt es drei verschiedene Kandidaten, die in Afrika, Asien und den USA an Freiwilligen getestet werden. So versucht man etwa den Eintritt des Malariaparasiten Plasmodium falciparum in menschliche Leberzellen und seine Reifung zu blockieren, während eine andere Strategie darauf beruht, die Übertragung von einem Opfer zum nächsten zu verhindern.Bequemlichkeit oder die Angst vor der Spritze sind zwei gravierende Hürden, die dem optimalen Impfschutz im Weg stehen. Doch Impfstoffhersteller arbeiten an Alternativen zur ungeliebten Spritze, etwa an Nasensprays, die künftig als schmerzfrei einzuatmendes Impfaerosol vor Atemwegsinfektionen schützen. An 1300 Kindern erprobten Mediziner vor der Grippesaison 1997/98 im Rahmen einer klinischen Studie das Präparat »Flumist«. Nur zwei Prozent der so behandelten Kinder erkrankten an Influenza. Damit übertraf das Nasenspray bei weitem die Schutzrate, die herkömmliche Grippeimpfstoffe per Injektion in den Oberarm bei Erwachsenen bieten.Der US-amerikanische Mediziner Hunein F. Maassab, der an der Entwicklung von Flumist maßgeblich beteiligt war, führt diesen Erfolg darauf zurück, dass der Impfstoff via Nasenspray auf dem natürlichen Infektionsweg der Grippeviren in den Körper gelangt und so eine stärkere Immunantwort auslöst. Sollte Flumist tatsächlich alle Zulassungshürden nehmen und es sich als ebenso wirksam bei Erwachsenen erweisen, dann könnte dieses Impfkonzept als Modell für die Entwicklung eines Impfstoffes gegen die wahrscheinlich häufigste aller Menschheitsplagen dienen: den gewöhnlichen Schnupfen.Schutz aus der BananeFlumist, der Pneumokokken- und der Rotavirenimpfstoff stellen zweifellos bedeutende Fortschritte bei der Impfstoffentwicklung dar. Erarbeitet wurden sie weitgehend mit den klassischen Verfahren der Biotechnik. Dank der heute weit verbreiteten gentechnischen Methoden werden Impfstoffhersteller in Zukunft noch gezielter und schneller als in der Vergangenheit jene Proteinbestandteile eines Erregers finden und vermehren, die sich am besten als Impfstoffkomponenten eignen, also am zuverlässigsten eine schützende Immunantwort bei dem Impfling hervorrufen.Dem US-amerikanischen Molekulargenetiker Craig Venter und seiner Firma TIGR (The Institute for Genomic Research) gelang es 1995 erstmals, das Erbgut eines frei lebenden Organismus vollständig zu entschlüsseln. Es handelt sich um das Bakterium Haemophilus influenzae. Binnen weniger Jahre zogen andere Forschergruppen und Unternehmen mit den kompletten Gendaten weiterer Krankheitserreger nach. In öffentlichen und privatwirtschaftlichen Genomdatenbanken können Wissenschaftler inzwischen harmlose und gefährliche Erregerstämme mithilfe von Analyseprogrammen miteinander vergleichen oder unter Tausenden von Zellbestandteilen und Stoffwechselenzymen besonders viel versprechende Angriffspunkte für neue Impfstoffe und Wirksubstanzen aufspüren.Auf gentechnischem Weg konstruierten Forscher des Boyce Thompson Institute for Plant Research an der US-amerikanischen Cornell-Universität den ersten essbaren Impfstoff, der am Menschen erprobt wurde. Sie übertrugen dazu ein Gen aus bestimmten Coli-Bakterien, die Durchfälle verursachen, in das Erbgut von Kartoffeln. Die genmanipulierten Pflanzen übersetzten daraufhin die fremde Erbinformation und bildeten ein bakterielles Eiweiß. Zehn von elf Freiwilligen, die jeweils drei kleine Portionen dieser — rohen — Kartoffeln gegessen hatten, zeigten wenige Wochen später eine deutliche Aktivierung ihres Immunsystems gegen das Fremdeiweiß. Diese Reaktion ist eine Grundvoraussetzung für den Aufbau eines Impfschutzes gegen einen Erreger.Wissenschaftler unter der Leitung der beiden US-amerikanischen Molekularbiologen Charles J. Arntzen und Hugh S. Mason wollen auf diesem Weg weiter gehen — sie arbeiten an gentechnisch veränderten »Impfbananen«. Diese wären nicht nur schmackhafter als rohe Kartoffeln, sondern auch ein Meilenstein auf dem Weg zu billigen Impfstoffen für Entwicklungsländer. Die meisten der heute verfügbaren Impfstoffe benötigen teure Kühlketten, damit sie wirksam bleiben. Dieser enorme logistische Aufwand und die hohen Transportkosten entfielen, wenn in tropischen Ländern genmanipulierte Bananenstauden die Impfstoffe gleichsam vor Ort liefern würden.Böse ÜberraschungenWie kein anderes Lebewesen verändert der Mensch die Welt, in der er lebt. Dass durch die Eroberung der Natur und die damit verbundenen globalen Stoff- und Nahrungsströme neue, schwer oder gar nicht vorhersehbare Gesundheitsrisiken entstehen können, illustrieren zwei Krankheiten, die auf den ersten Blick keinerlei Gemeinsamkeiten besitzen: die Rinderseuche BSE als wahrscheinlicher Ausgangspunkt für eine neue, tödliche Hirnerkrankung des Menschen sowie die rasante Zunahme von Allergien und Asthma.Was bislang nur den stereotypen verrückten Forschern in klischeebeladenen Horrorfilmen vorbehalten war — nämlich die Erschaffung und massenhafte Verbreitung eines neuen Krankheitserregers — geschah im Großbritannien der 1980er-Jahre unter den Premierministern Margaret Thatcher und John Mayor. Die als Rinderwahn bekannte Bovine Spongiforme Enzephalopathie (BSE) entstand infolge einer brisanten Mixtur aus profitgetriebenen und unnatürlichen Praktiken der industriellen Fleischerzeugung, routinemäßigen Gesetzesverstößen und politisch motivierten Vertuschungsversuchen, wie die Aussagen Dutzender Zeugen vor dem offiziellen BSE-Untersuchungsausschuss in London belegen.Fleisch- und Knochenmehl aus Schafskadavern, das Rindern als proteinreiche Nahrungsergänzung verfüttert worden war, hatte ungewöhnliche und extrem widerstandsfähige Erreger enthalten, die Scrapie-Prionen. Sie überlebten die oft schlampige Sterilisation des Fleischmehls, infizierten das Nervensystem der Rinder, passten sich an den neuen Wirt an und töteten vermutlich weit mehr als die 173718 Tiere, die bis Ende Januar 1999 offiziell registriert wurden. Trotz der größtenteils aus EU-Geldern finanzierten Vernichtung von etwa 1,5 Millionen Rindern zur Seuchenkontrolle in Großbritannien und einer Reihe zunehmend strengerer Exportverbote ab Juli 1991 gelang es nicht vollständig, die Ausbreitung von BSE auf den europäischen Kontinent zu verhindern. Mindestens bis Mitte 1998 gelangten verseuchte Hamburger, Würste und andere Fleischprodukte in die Mägen der Verbraucher. Aus Rinderknochen, Haut und Bindegewebe hergestellte Gelatine erreichte als Pudding, Gummibärchen und Tortenbelag sowie als Inhaltsstoff zahlreicher Kosmetika und Arzneimittel auch strenge Vegetarier.Welche Bedeutung dem beizumessen ist, lässt sich aufgrund der langen Zeitspanne, die verstreicht, bis sich eine Prionen-Erkrankung mit klinischen Symptomen bemerkbar macht, vermutlich erst nach dem Jahr 2010 mit einiger Verlässlichkeit beurteilen. Die meisten Experten beunruhigt derweil eine Beobachtung: Zwischen Anfang 1996 und Ende 1998 registrierten die britischen Behörden insgesamt 39 Fälle einer bislang unbekannten, BSE-ähnlichen Krankheit beim Menschen. Sie scheint mit der äußerst seltenen Creutzfeld-Jakob-Krankheit (CJK) verwandt zu sein, die nach fortschreitendem geistigen Zerfall und massiven Bewegungsstörungen innerhalb weniger Monate zum Tod führt. Auch CJK wird von Prionen verursacht, doch zeigen molekularbiologische Vergleiche, dass die Prionen in den Hirnen der verstorbenen Briten denen der Rinder ähnlicher sind als jenen von Patienten mit CJK. Epidemiologische Daten, die auf eine zunehmende Häufigkeit der neuen, als vCJK bezeichneten Krankheit hinweisen, nähren ebenfalls den schlimmen Verdacht, die Seuche könne vom Rind auf den Menschen übergesprungen sein. Auch wenn sich in Zukunft erweisen sollte, dass die Rinderseuche BSE nicht oder nur in extrem seltenen Fällen auf den Menschen übertragbar ist, gibt es keinen Grund, den Fall BSE zu den Akten zu legen. Nur ein biologischer Zufall hätte dann die Europäer vor einer selbst verursachten, schrecklichen Epidemie bewahrt.Auch für Mikroorganismen wird die Welt immer kleinerSchlamperei, Ignoranz und Skrupellosigkeit sind nicht die einzigen Faktoren, die das Auftreten neuer Krankheiten begünstigen. Der Vorstoß Not leidender Menschenmassen in die letzten Wildnisse der Erde erhöht die Zahl der Kontakte mit bislang unbekannten Erregern; globale Verkehrsströme und Sextourismus sorgen dann — wie bei Aids bereits geschehen — für eine schnelle, weltweite Ausbreitung. Wo Millionen von Menschen und Tieren auf engstem Raum zusammenleben, wie beispielsweise in vielen Ballungszentren Asiens, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass aus ständigen Mischinfektionen neue, besonders gefährliche Keime entstehen. Ein historisches Beispiel dieser Entwicklung ist die Grippeepidemie der Jahre 1918/19, die nach Expertenschätzungen bis zu ein Prozent der damaligen Weltbevölkerung auslöschte. Die zu jener Zeit grassierende Virusvariante entstand durch die genetische Durchmischung menschlicher und tierischer Influenzaviren. Globale Überwachungsprogramme, wie sie beispielsweise von der WHO und den amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) koordiniert werden, sollen ähnliche Katastrophen in Zukunft verhindern. Eine Garantie bieten sie aber nicht.Paradoxerweise könnten vielleicht sogar besonders hygienische Lebensverhältnisse die Ausbreitung von Krankheiten fördern. Diesen Verdacht hegen eine Reihe von Medizinern etwa beim Asthma und bei den Allergien, die derzeit weltweit zunehmen. In Westeuropa verdoppelte sich die Zahl der Asthmatiker in der letzten Dekade, in den Vereinigten Staaten wuchs sie seit 1980 um 60 Prozent. Nicht weniger dramatisch sind die Zuwächse bei Allergien: Ein Fünftel aller Kleinkinder und ein Viertel aller Erwachsenen in Deutschland leiden mittlerweile an unterschiedlichen Formen der allergischen Erkrankungen. Die Suche nach den Ursachen gestaltet sich indes schwierig. So existieren für beide Leiden eher willkürliche Krankheitsdefinitionen. Verschiedene Forscher benutzen zwar dieselben Begriffe, sie subsumieren aber nicht notwendigerweise dasselbe darunter. Das erschwert den Vergleich von Ergebnissen zweier Arbeitsgruppen oder macht ihn mitunter gar unmöglich.Dass Umwelt und Lebensstil bei diesen Erkrankungen eine wesentliche Rolle spielen, legt der Vergleich ihrer Häufigkeit in Ost- und Westdeutschland nahe. Entgegen der Erwartung, wonach die Umweltverschmutzung in der ehemaligen DDR zur Häufung von Allergien und Asthma führen sollte, sind diese Leiden bei den nach 1960 Geborenen im Osten nur halb so häufig wie im Westen. Auch in Beijing, wo die Atemluft bis zu 35-mal mehr Schadstoffe enthält als in europäischen Hauptstädten, ist Asthma vergleichsweise selten.Des Rätsels Lösung, so vermuten mittlerweile viele Experten, könnte in der übertriebenen Reinlichkeit vieler Menschen in den westlichen Industrienationen liegen. Vereinfacht lautet die Hypothese: Das Immunsystem leidet hierzulande im frühen Kindesalter an Arbeitsmangel und stürzt sich daher auf harmlose Substanzen aus der Umwelt — seien es Blütenpollen, Tierhaare oder die in modernen, wärmeisolierten Häusern reichlich vorhandenen Exkremente der Hausstaubmilben. Für diese Erklärung spricht zudem, dass Allergien und Asthma bei Personengruppen mit eher nachlässigen Hygienegewohnheiten vergleichsweise selten auftreten.Auch Kindern, die schon sehr früh in Tagesstätten oder mit vielen Geschwistern aufwachsen, bleiben beide Leiden meist erspart. Sie haben reichlich Gelegenheit, sich bei ihren Spielkameraden mit veritablen Erregern anzustecken — ihr Immunsystem ist also hinreichend beschäftigt und muss sich keine »Phantomfeindbilder« schaffen, so die Erklärung. In einer Untersuchung fanden Mediziner der Berliner Humboldt-Universität zudem heraus, dass atopische Ekzeme bei 1,5 Prozent aller Frühgeborenen auftreten. Dagegen entwickelten vier Prozent aller Babys, die pünktlich zur Welt gekommen waren, diese Überempfindlichkeitsreaktion der Haut während des ersten Lebensjahrs. Die mögliche Erklärung für diese Diskrepanz: Frühgeborene sind auf der Intensivstation einer Vielzahl von Krankheitserregern ausgesetzt, ihr Immunsystem wird von Geburt an stark gefordert.Ebenso wie das Gehirn kann auch das Immunsystem seine enorme Leistungsfähigkeit nur dann entfalten, wenn es zur rechten Zeit durch spezifische Schlüsselreize stimuliert wird, glaubt Graham Rook vom University College in London. Er ist einer der stärksten Befürworter der »Hygienehypothese« und verfolgt diesen Erklärungsansatz noch in einer anderen Richtung: Schutzimpfungen, die Kinder erhalten, stimulieren nämlich im Unterschied zu natürlichen Infektionen bevorzugt nur einen Arm der Immunantwort, nämlich die weißen Blutzellen vom Typ Th2. Der zweite Arm mit den Th1-Zellen müsste nach Rooks Hypothese jedoch ebenfalls »beschäftigt« werden, damit das Immunsystem nicht harmlose Moleküle zu Eindringlingen erklärt. Aus diesem Grund suchte Rook lange nach einem geeigneten Stimulans für die bei Impfungen »vernachlässigten« Th1-Zellen. Mit dem Mycobacterium vaccae, einem aus afrikanischen Bodenproben isolierten und im Labor veränderten Bakterienstamm, meint der Mediziner einen Erfolg versprechenden Kandidaten gefunden zu haben. Ende 1998 wurden diese abgetöteten Bakterien erstmals in einem klinischen Versuch 40 Freiwilligen injiziert, die an Heuschnupfen oder Asthma litten. Immerhin milderten sich die Symptome bei den meisten Probanden, doch dieser begrenzte Versuch klärt weder die Frage, ob eine »Korrekturimpfung« tatsächlich hilft, Allergiker und Asthmatiker von ihren Leiden zu heilen, noch ob man mit dieser Strategie solchen Erkrankungen vorbeugen kann.Dipl.-Biol. Michael SimmWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Medizin: Die Biotechnik eröffnet neue WegeÄrzte, Technik, Patienten, bearbeitet von Annette Bopp u. a. Hamburg 1991.Eberhard-Metzger, Claudia und Ries, Renate: Verkannt und heimtückisch. Die ungebrochene Macht der Seuchen. Basel u. a. 1996.Garrett, Laurie: Die kommenden Plagen. Neue Krankheiten in einer gefährdeten Welt. Aus dem Englischen. Frankfurt am Main 1996.Gesundheitsbericht für Deutschland. Ergebnis eines Forschungsvorhabens. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, herausgegeben vom Statistischen Bundesamt. Stuttgart 1998.
Universal-Lexikon. 2012.